Behandlungsfehler durch überlange Operationsdauer (elf Stunden)

OLG Frankfurt am Main, 03.05.2016 – 8 U 224/12

Behandlungsfehler durch überlange Operationsdauer (elf Stunden)

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden vom 13.09.2012 (Az.: 2 O 233/09) teilweise abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5% Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 13.02.2010 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen Schäden aus der fehlerhaft überlangen Operation am 21.11.2005 zu ersetzen, vorbehaltlich eines gesetzlichen Forderungsüberganges.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger 3600,94 € vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu zahlen.

Im Übrigen werden die Klage ab- und die Berufung zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 24% und die Beklagte 76%.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des gesamten aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert der ersten und der zweiten Instanz wird auf bis zu 165.000,-€ festgesetzt.

Gründe
I.

Der Kläger fordert wegen behauptet fehlerhafter ärztlicher Behandlung und Aufklärung Ersatz immaterieller Schäden, Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für sämtliche materielle Schäden und zukünftige nicht vorhersehbare immaterielle Schäden sowie Ersatz von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.

Der am …196x geborene Kläger litt seit Jahren an Rückenschmerzen mit wechselnder Schmerzausstrahlung. Er war bereits 1997 wegen eines Bandscheibenvorfalls L5/S1 links in Rehabilitationsbehandlung.

Der Kläger, der wegen seiner Beschwerden eine Umschulung als Heilerzieher absolviert hat, war seit dem 08.05.2005 arbeitsunfähig (Bl. 166 d. A.). Vom 27.07.2005 bis 24.08.2005 erfolgte die stationäre konservative Rehabilitationsbehandlung in der A-Rehaklinik Stadt1 wegen chronischer, akut seit Mai zunehmender Rückenschmerzen bei relativer Spinalstenose L3/4, L4/5 und mediolateral links gelegenen Bandscheibenvorfall L5/S1 nach entsprechender Bildgebung (MRT). Nach längerem Gehen nahmen die Schmerzen deutlich zu, Treppensteigen war schmerzbedingt kaum möglich, ebenso das Bücken. Auch bei längerem Sitzen nahmen die Schmerzen zu, das Liegen musste teilweise in einem Stufenbett erfolgen. Die Rehabilitation gestaltete sich aufgrund der ausgeprägten Schmerzsymptomatik schwierig; der Kläger erfuhr durch diese keine Besserung.

Am 01.09.2005 stellte sich der Kläger in der Ambulanz der neurochirurgischen Klinik der Beklagten vor. Ihm wurde eine stationäre Aufnahme zur Abklärung der Schmerzgenese mit Provokationsdiskografie L5/S1 und Facetteninfiltrationsbehandlungen L4/5 und L5/S1 vorgeschlagen. Hierzu wurde er vom 19.09.2005 bis 23.09.2005 stationär aufgenommen. Es wurden Facettenblockaden L4/5 und L5/S1 und Iliosacralgelenks-Blockaden vorgenommen; die Provokationsdiskografie unterblieb (aufgrund technischer Probleme). Unter der Infiltration der Wirbelgelenke kam es zu einer Schmerzbesserung.

Der Kläger entschied sich gegen eine (weitere) konservative Therapie und für eine operative Therapie, eine Nukleotomie L4/5, L5/S1 und Implantation von Fusions-Cages mit Implantationsfixateur interne L4 bis S1 beidseitig.

Am 16.11.2005 fand ein Aufklärungsgespräch mit der damaligen Assistenzärztin der Beklagten, der Zeugin Z1, statt (Einverständniserklärung vom 16.11.2005, Anlage B3, Bl. 70 d. A.), dessen Inhalt zwischen den Parteien streitig ist.

Am 20.11.2005 wurde der 1,80 m große und 110 Kg schwere Kläger stationär zur Operation aufgenommen. Die Diagnosen lauteten: Relative Spinalkanalstenose LWK3/4, Instabilität LWK4/5 und LWK 5/SWK 1, Bandscheibenvorfall präsakral links medio-lateral nach entsprechender Bildgebung von Mai 2005 (Arztbrief vom 19.12.2005, Krankenunterlagen Bl. 170, 171 d. A.).

Am 21.11.2005 führte der Direktor der Klinik für Neurochirurgie der Beklagten, der Zeuge Z2, den Eingriff durch. Die Operation erfolgte in Bauchlage; sie begann um 9:20 Uhr und endete um 21:15 Uhr – Lagerung 12 Stunden, OP-Dauer 11 Stunden -. Es wurde die Lendenwirbelsäule dargestellt. Unter dem Mikroskop erfolgte eine bilaterale Flavektomie und Hemilaminektomie LWK 4, die Nervenwurzeln L4 und L5 wurden beidseits freigelegt und mittels Foramintomie dekomprimiert. Das Bandscheibenfach LWK 4/5 wurde von beiden Seiten ausgehöhlt, distrahiert und mit Cages stabilisiert. Identisch wurde in der Etage darunter vorgegangen. Abschließend erfolgte die transpedikuläre Fixierung mittels Schrauben-Stab-System durch den Unfallchirurgen … (OP-Bericht B5, Bl. 122, 123 d. A.).

Postoperativ zeigte sich am 24.11.2005 eine Quadrizepsparese und eine Hüftbeugerparese beidseits. Die am 24.11.2005 abgeleitete CT zeigte eine regelhafte Implantatlage (Krankenunterlagen, Bl. 194 d. A.). Die am 30.11.2005 durchgeführte Röntgenkontrolle zeigte eine regelrechte Lage der Spondylodese im Segment L4/5 und L5/S1 und eine Torsionsskoliose der LWS nach links bei einem Zustand nach Sturz (Krankenunterlagen, Bl. 195 d. A.). Der am 15.12.2005 erhobene elektroneurografische und elektromyografische Befund sprach für eine ausgeprägte aber inkomplette Läsion des Nervus femoralis, rechts ausgeprägter als links und für eine diskrete zusätzliche Wurzelläsion L4/5 links (Krankenunterlagen, Bl. 199, 219 d. A.). Der Operateur führte die Nervschädigung auf den lang anhaltenden Druck der mehrstündigen Operation zurück.

Bei der Entlassung am 19.12.2005 zur Rehabilitation in der B-Klinik in Stadt2 war der Kläger weitgehend steh- und gehunfähig. Es lagen sensomotorische Störungen beider Oberschenkel im Dermatom L4 links mehr als rechts mit der Folge von Kraftlosigkeit beider Oberschenkel vor. Nach Abschluss der Rehabilitation am 25.01.2006 war der Kläger in der Lage, mit zwei Unterarmgehstützen bis zu 600 m zu gehen. Es lag kein Druck- und Klopfschmerz vor.

Die abschließende Kontrolluntersuchung am 09.07.2007 in der Ambulanz der neurochirurgischen Klinik der Beklagten zeigte eine deutliche Besserung der Läsion des Nervus femoralis. Es bestand weiterhin eine Iliopsoasparese beidseits Kraftgrad 4/5 sowie eine diskrete Quadrizepsparese. Es kam zur neuerlichen Progredienz der Rückenschmerzen und zum Wiederauftreten von Kribbelparästhesien im L5-Dermatom.

Vom 02.11.2009 bis 13.11.2009 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung der Klinik für Schmerztherapie und Palliativmedizin des A1-Krankenhaus Stadt3. Wesentliche Paresen bestanden nicht mehr. Es zeigten sich schmerzhafte Parästhesien im Versorgungsgebiet des Nervus femoralis, die auf eine Behandlung mit Gabapentin ansprachen.

Der Kläger, der seine Arbeitstätigkeit nicht wieder aufnahm, bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (Rentenbescheid vom 01.07.2009, Anlage K2, Bl. 30 d. A.).

Der Kläger hat behauptet, die Operation vom 21.11.2005 sei nicht lege artis durchgeführt worden. Die extrem lange Operationsdauer sei nicht regelhaft. Nach den Voruntersuchungen sei sein kräftiger muskulöser Körperbau bekannt gewesen. Die Operation habe deshalb anders geplant und durchgeführt werden müssen, sie habe mittels Mikrochirurgie und/oder dem Einsatz entsprechender Werkzeuge ausgeführt werden müssen. Er sei während der Operation nicht ordnungsgemäß gelagert gewesen, die Beklagte habe ein rechtzeitiges Drehen bzw. eine Bewegung des Körpers pflichtwidrig unterlassen. Die überlange Operation bei nicht fachgerechter Lagerung habe die Läsion des Nervus femoralis verursacht. Vorschäden seien nicht vorhanden gewesen.

Er sei am 16.11.2005 nicht ausreichend über die Operationsrisiken aufgeklärt worden. Die Möglichkeit einer lagerungsbedingten Schädigung des Nervus femoralis bei der langen Operationsdauer sei unerwähnt geblieben. Die Zeugin Z1 habe bei dem etwaigen Lagerungsschaden nur von Druckstellen und blauen Flecken gesprochen. Wenn er gewusst hätte, dass er nach dem Eingriff zu einem chronischen Schmerzpatienten werde, der sich kaum bewegen könne, hätte er seine Einwilligung nicht erteilt.

Zudem sei eine Aufklärung über alternative Behandlungsmöglichkeiten unterblieben.

Seit dem Eingriff könne er sich nicht mehr schmerzfrei bewegen, knien, bücken oder in die Hocke gehen. Längere Gehstrecken und Stehzeiten seien ihm nicht mehr möglich. Auf Unebenheiten stolpere er. Die Parästhesie persistiere; sie erfordere seine ständige schmerztherapeutische Behandlung mit Morphium. Darüber hinaus bedürfe er ständiger psychologischer Betreuung.

Der Kläger hält ein Schmerzensgeld in Höhe von 85.000,- € und eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 100,- € für angemessen. Er errechnet einen monatlichen Verdienstausfall von 1.000,- €. Den Haushaltsführungsschaden für die Vergangenheit berechnet der Kläger mit insgesamt 12.513,68 €. Wegen der Einzelheiten der Berechnung wird auf die Klageschrift S. 10, 11 (Bl. 24, 25 d. A.) Bezug genommen. Er habe einen … qm großen Gutshof und bewohne in einem gehobenen 2-Personenhaushalt im eigenen Haus eine Wohnfläche von 110 qm. Schließlich setzt er pauschal für Zuzahlungen, Fahrtkosten und Umbaumaßnahmen sowie seinen Einkommensverlust aus einer …zucht 5.000,- € an.

Die Parteien haben die im Tatbestand des landgerichtlichen Urteils wiedergegebenen Anträge gestellt.

Die Beklagte hat behauptet, die Operationsdauer sei nicht zu beanstanden. Sie beruhe zum einen auf der erst intraoperativ festzustellenden kräftigen Knochenstruktur des Klägers und zum anderen auf der regelhaften mikrochirurgischen Vorgehensweise unter Einsatz von Stanzen sowie einer Hochgeschwindigkeitsfräse mit einem Diamantschleifkörper. Der Kläger sei regelhaft nach der sog. Lagerung nach Mason auf dem Operationstisch gelagert worden. Bei der eingetretenen Läsion des Nervus femoralis handele es sich um ein nicht vermeidbares Risiko der Lagerung. Dem Kläger seien von der aufklärenden Ärztin Z1 am 16.11.2005 das Risiko eines Lagerungsschadens, die Gefahren einer Nervenverletzung und das Risiko einer Teillähmung mit der Möglichkeit bleibender Beschwerden verdeutlicht worden. Der Kläger hätte in jedem Fall in die Operation eingewilligt, da sein Leidensdruck aufgrund der chronischen Schmerzen mit einhergehender Beeinträchtigung groß gewesen sei.

Bereits während seines Krankenaufenthaltes vom 19.09.2005 bis zum 23.09.2005 sei er über die Möglichkeit der konservativen Therapie aufgeklärt worden. Unstreitig lehnte der Kläger eine weitere konservative Therapie ab.

Die Schadensentwicklung sei abgeschlossen. Lähmungserscheinungen und Sensibilitätsstörungen seien nahezu vollständig nicht mehr vorhanden.

Das Landgericht hat ein neurochirurgisches Gutachten des SV1 vom 28.11.2011 (Bl. 390 – 400 d. A.) eingeholt, das der Sachverständige am 12.07.2012 mündlich erläutert hat (Bl. 453 – 456 d. A.). Es hat die Zeugen Z1 und Z3 zum Aufklärungsgespräch und die Zeugen Z2 und Z4 zur Lagerung sowie den Zeugen Z2 zur Operationsdurchführung vernommen (Bl. 298 – 301; 324 – 329; 450 – 453 d. A.). Sodann hat es die Klage abgewiesen, da nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme weder Behandlungsnoch ein Aufklärungsfehler festzustellen seien. Zwar sei die Läsion des Nervus femoralis mit der Folge einer Lähmung der Kniegelenkstreckung und Hüftgelenkbeugung mit Sensibilitätsstörung auf die lange Operationsdauer in Bauchlage zurückzuführen, doch habe die Beklagte bewiesen, dass der Lagerungsschaden nicht durch eine falsche Lagerung während der Operation verursacht worden sei und die regelhafte Vorgehensweise die entsprechend lange Operationsdauer begründe. Auch sei der Kläger vor dem Eingriff von Z1 ausreichend über das Risiko der Nerven- und Lagerungsschäden aufgeklärt worden. Dass er lediglich über Nervenschäden allgemein und nicht über die spezielle Schädigung des Nervus femoralis aufgeklärt worden sei, stelle keinen Mangel der Aufklärung dar. Der Sachverständige SV1 habe diese Schädigung bei der Operation in Bauchlage als extrem selten beschrieben und sei zu dem Schluss gekommen, dass bei der vorgenommenen Operation nicht mit einer Schädigung des Nervus femoralis zu rechnen und damit ein solches Risiko auch nicht aufklärungsbedürftig sei.

Gegen das Urteil richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, mit der er seine erstinstanzlichen Anträge unverändert weiter verfolgt. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und äußert „Zweifel“ an der umfassenden Berücksichtigung der dem Rechtsstreit zu Grunde liegenden Beweislage und der besonderen Beweislastverteilung im Arzthaftungsrecht. Im Einzelnen:

1.a) Der Kläger behauptet erstmals in der Berufungsinstanz, dass die Wirbelsäulenversteifung nicht indiziert gewesen sei und es ausgereicht hätte, den Bandscheibenvorfall und die Spinalkanalstenose zu entfernen. Im Übrigen gebe es alternative Maßnahmen, z. B. die Implantation einer Bandscheibenprothese, welche gleichfalls eine Stabilisierung herbeiführten, ohne die mit der Versteifung einhergehende Bewegungseinschränkung auszulösen. Wäre die nicht indizierte Wirbelsäulenversteifung nicht durchgeführt worden, so hätte sich die Operationsdauer auf ein bis zwei Stunden verkürzt, so dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu einem Lagerungsschaden gekommen wäre.

b) Keinesfalls sei die hier vorgenommene langstreckige Versteifung der Wirbelsäule indiziert gewesen. Laut Aussage einer nunmehr involvierten Privatgutachterin sei dies eine relativ neue Methode, das Verfahren habe sich noch nicht etabliert, Ergebnisse von Langzeitstudien seien unbekannt.

2. Das minimal invasive Vorgehen sei nicht angezeigt gewesen, vielmehr sei ein offen chirurgisches Vorgehen, welches grundsätzlich in kürzerer Zeit durchzuführen sei, angezeigt gewesen. Schwierigkeiten seien im Hinblick auf den kräftigen muskulösen Körperbau des Klägers und die Adipositas zu erwarten gewesen.

3. a) Es erschließe sich nicht, warum die eigentliche Operation erst mit einer Verzögerung von rund 45 Minuten nach Fertigstellung der Lagerung und Freigabe durch den Anästhesisten begonnen worden sei.

b) Die Dokumentationslücke der intraoperativen „Erschwernisse“ und des Einsatzes der Instrumente sei durch die Angaben des Operateurs, des Zeugen Z2, nicht geschlossen worden. Gründe für die extrem lange Operationsdauer von 11 Stunden bei einer Lagerung von 12 Stunden seien nicht gegeben. Die Dauer der Operation sei somit als behandlungsfehlerhaft zu beanstanden.

4. Es spreche vieles dafür, dass die sich erstmals postoperativ bildgebend zeigende Drehverkrümmung durch eine nicht lege artis durchgeführte Wirbelsäulenversteifung verursacht worden sei.

5. a) Er sei darüber aufzuklären gewesen, dass die Versteifung nicht indiziert sei, dass es sich bei der langstreckigen Versteifung um ein noch nicht etabliertes Verfahren handele und dass bei dem vorgenommenen Eingriff das offen chirurgische Vorgehen die Standardmethode sei.

b) Er sei über alternative Operations- und Behandlungsmöglichkeiten – Bandscheibenprothese, konservative Therapie – aufzuklären gewesen; eine Aufklärung sei jedoch nicht erfolgt.

c) Im Hinblick auf seine kräftige Statur habe der Operateur der Beklagten auf ein kräftiges Muskelkorsett und starke Knochen sowie eine (über-) lange Operationsdauer schließen müssen, die bei dorsalem Zugang das lagerungstypische Risiko einer Schädigung des Nervus femoralis berge, über das er aufzuklären gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

1.
das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 13.09.2012 (Az: 2 O 233/09) wird aufgehoben.
2.
Das Verfahren wird an das Landgericht Wiesbaden als Gericht des ersten Rechtszuges zurückverwiesen.
Hilfsweise,

1.
das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 13.09.2012 (Az: 2 O 233/09) wird abgeändert.
2.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Festsetzung der Höhe nach in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
3.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche aus der fehlerhaften Behandlung resultierenden weiteren materiellen Schäden für Vergangenheit und Zukunft, sowie die nicht vorhersehbaren immateriellen Zukunftsschäden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
4.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger die nach dem RVG nicht konsumierten außergerichtlichen Kosten des Klägers beim Prozessbevollmächtigten in Höhe von 4.626,72 € im Wege der Nebenforderung zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Zu 1. a): Die Versteifung der Wirbelsäulensegmente sei im Hinblick auf die Instabilität in den Lagen LWK 4/5 und LWK 5/SWK 1 sowie die zusätzlichen Bandscheibenvorfälle indiziert gewesen. Es habe neben der Dekompression eine Stabilisierung in beiden Etagen vorgenommen werden müssen.

Zu 1. b): Eine langstreckige Versteifung der Wirbelsäule liege nicht vor, da lediglich zwei aufeinander folgende Wirbelsäulenfragmente operativ behandelt worden seien.

Zu 2. Das operative Vorgehen unter Einsatz des Mikroskops sei nicht zu beanstanden.

Zu 3. a): Die Operation sei nicht verzögert begonnen worden. Um 9:20 Uhr sei die Operationsfreigabe durch den Anästhesisten erfolgt. Der Kläger sei ab 9:22 Uhr gelagert worden. Nach endgültiger Lagerung seien die weiteren vorbereitenden Operationsmaßnahmen durchgeführt worden. Dies habe die Zeit bis 10:07 Uhr beansprucht.

Zu 3. b): Soweit das Operationsprotokoll Lücken enthalte, seien diese durch die zeugenschaftlichen Angaben des Operateurs geschlossen worden. Die überlange Operationsdauer resultiere aus den intraoperativ vorgefundenen knöchernen Strukturen; sie sei nicht zu beanstanden.

Zu 4.: Es werde bestritten, dass der Kläger durch die Operation eine Torsionsskoliose der LWS nach links erfahren habe.

Zu 5 a): Die Versteifung sei indiziert gewesen, es liege keine langstreckige Versteifung der Wirbelsäule vor und die Vorgehensweise unter dem Mikroskop sei regelhaft gewesen.

Zu 5. b): Mit dem Kläger seien sämtliche Therapiemöglichkeiten besprochen worden, aufgrund seines sehr hohen Leidensdrucks habe er sich zur operativen Therapie entschieden.

Zu 5. c): Die aufklärende Ärztin, die Zeugin Z1, habe glaubhaft geschildert, dass sie bei einem Lagerungsschaden ausdrücklich darauf hinweise, dass ein Nervenschaden eintreten könne, der zu einer nachfolgenden Symptomatik in Form von Gefühlsstörungen und Teillähmungen führen könne. Dies sei deutlich und ausreichend. Speziell auf eine Möglichkeit der Schädigung des Nervus femoralis habe der Kläger nicht hingewiesen werden müssen, da es sich bei der durchgeführten Lagerung nicht um ein typisches Risiko handele, sondern um eine Rarität innerhalb der Neurochirurgie.

Der Kläger hätte sich aufgrund seines Leidensdrucks in jedem Fall für die Operation entschieden.

Der Senat hat die Zeugin Z1 und den Kläger am 03.12.2013 zum Inhalt des Aufklärungsgesprächs vom 16.11.2005 vernommen bzw. angehört (Bl. 631 – 634 d. A.). Er hat weiter Beweis erhoben nach dem Beschluss vom 18.02.2014 durch Einholung eines am 20.10.2014 eingegangenen neurochirurgischen Ergänzungsgutachtens des Sachverständigen SV2 (Bl. 652 f.; Bl. 690 ff. d. A.), welches der Sachverständige am 07.07.2015 und am 01.03.2016 vervollständigend erläutert hat (Bl. 726 ff; 773 ff. d. A.).

II.

A.

Die Berufung ist zulässig; sie insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

Der Feststellungsantrag ist teilweise zulässig.

Dem Kläger ist es unbenommen, die materiellen Ansprüche insgesamt im Wege der Feststellungsklage zu verfolgen, auch wenn der Anspruch bereits teilweise für die Vergangenheit beziffert werden könnte, da sich der anspruchsbegründende Sachverhalt noch in der Fortentwicklung befindet.

Unzulässig ist der Antrag hingegen, soweit der Kläger die Feststellung der Ersatzpflicht nicht vorhersehbarer immaterieller Zukunftsschäden beansprucht. Unvorhersehbares ist im Hinblick auf den Gesundheitsschaden als solchen äußerst unwahrscheinlich. Der Gesundheitsschaden hat sich manifestiert. Während sich die Paresen nahezu vollständig zurückgebildet haben, persistieren die Kausalgien im Ausbreitungsgebiet des Nervus femoralis beidseits. Dabei ist mit einer Besserung der Schmerzzustände nach überzeugender Bewertung beider Sachverständiger nicht mehr zu rechnen. Es handelt sich um einen chronisch-neuropathischen Schmerz, der nach traumatischer Läsion eines peripheren Nerven aufgetreten ist.

B.

Die Berufung ist teilweise begründet. Der Kläger kann von der Beklagten wegen fehlerhafter Operation am 21.11.2005, durch die er einen Gesundheitsschaden erlitten hat, immateriellen Schadensersatz in Höhe von 50.000,00 € und Feststellung der Ersatzpflicht sämtlicher materieller Schäden beanspruchen (§§ 630a, 280, 611, 249, 253 Abs. 2 BGB, § 256 ZPO).

Im Übrigen ist die Berufung unbegründet.

Hierfür sind die nachfolgend wiedergegebenen Gründe maßgeblich:

1a)

Ein Behandlungsfehler liegt nicht schon in der Durchführung des Eingriffs.

Die Operation vom 21.11.2005 als solche war indiziert, nicht zuletzt deshalb, weil der Kläger weitere konservative Behandlungen ablehnte.

Soweit der Kläger behauptet, die Wirbelsäulenversteifung in zwei Segmenten sei nicht indiziert gewesen, da die Instabilität der Segmente L 4/5 und L 5/SWK 1 minimal gewesen sei, ist die neue streitige Behauptung der nicht indizierten Wirbelsäulenversteifungen in der Berufungsinstanz nicht zuzulassen; die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Der Kläger trägt nicht vor, dass er diese Erkenntnis erst jetzt gewonnen habe. Vielmehr stützt er seine Behauptung auf Gesichtspunkte, die ihm erstinstanzlich bereits bekannt waren, nämlich auf die Ausführungen in dem Gutachten der Gutachter- und Schlichtungsstelle der Landesärztekammer vom 06.08.2008 S. 7 (Bl. 66 R d. A.), wonach eine geringe Listhese mit minimaler Instabilität in den Segmenten LWK 4/5 und L5/SWK 1 bestanden habe und die im Arztbrief der Beklagten vom 19.12.2005 erwähnten Röntgenbefunde, wonach dort eine geringe degenerative Spondylolisthese vorgelegen habe.

Im Übrigen war die Versteifung indiziert. Das folgt – wenngleich in anderem Zusammenhang – aus der nachvollziehbaren Beurteilung des Sachverständigen SV2 im am 20.10.2014 eingegangenen neurochirurgischen Ergänzungsgutachten. Zwar bestand bei dem Kläger keine operationspflichtige Instabilität der Wirbelsäule, doch war die Versteifung aufgrund der therapieresistenten Schmerzen zur Ruhigstellung und hiermit zur Besserung der Schmerzsymptomatik indiziert. Auch das Gesamtschadensbild bzw. die – symptomatik, nämlich die Lumbago-Symptomatik, die geringe aber vorhandene Listhese, das Facettengelenkssyndrom, die Radikulopathie und die Claudicatiospinalis-Symptomatik im Rahmen der Spinalkanal-Stenose indizierten die dorsale Instrumentierung mit Dekompression. Das überzeugt.

b)

Soweit der Kläger weiter erstmals in der Berufungsinstanz behauptet, dass die langstreckige Versteifung der Wirbelsäule nicht habe vorgenommen werden dürfen, da es sich um ein noch nicht etabliertes Verfahren handele, ist diese Behauptung hingegen zuzulassen, da er sie auf die Aussage einer nunmehr involvierten Privatgutachterin stützt. Es erschließt sich jedoch ohne nähere Darlegung nicht, dass bei der hier vorgenommenen Versteifung von zwei aufeinander folgenden Segmenten eine langstreckige Versteifung vorliege. Der Kläger legt das Privatgutachten nicht vor. Aus seinem Vortrag mit der Berufungsbegründung ist lediglich die allgemeine Aussage der Privatgutachterin zu entnehmen, dass eine langstreckige Versteifung eine relativ neue Methode sei, die sich als Verfahren noch nicht etabliert habe. Dass eine solche hier aber vorliege, ergibt sich daraus nicht. Auch auf die Beanstandung der Beklagten legt der Kläger weder das Privatgutachten vor, noch hält er dazu weiteren Vortrag.

Die Frage, ob es schon einen Behandlungsfehler darstellt, ein nicht etabliertes Verfahren durchzuführen, kann damit unentschieden bleiben.

2.

Ein Behandlungsfehler liegt auch nicht in der operativen Vorgehensweise.

Soweit der Kläger eine minimalinvasive Vorgehensweise beanstandet und erklärt, dass das offene Vorgehen die Methode der Wahl gewesen sei, erschließt sich auch dieser Vorwurf nicht. Der Eingriff ist offen chirurgisch vorgenommen worden.

Der Sachverständige SV1 hat ausgeführt, dass der Eingriff offen chirurgisch vorgenommen worden sei und dass das offene chirurgische Vorgehen regelhaft gewesen sei. Hingegen seien minimalinvasive Eingriffe, die nicht durch einen offenen großen Zugang, sondern durch mehrere kleine Schnitte mit „verdeckter“ Anlage der Stabverbindung vorgenommen werden, damals und seien auch heute noch nicht als Standardeingriff zu betrachten. Dass offen vorgegangen worden ist, ist zudem dem Operationsbericht zu entnehmen, wonach die Lendenwirbelsäule dargestellt wird. Offensichtlich verwechselt der Kläger hier minimalinvasives und mikrochirurgisches Vorgehen. Soweit im Hinblick auf den Vortrag der Beklagten in der Berufungserwiderung noch Bedenken bestanden, ob offen chirurgisch vorgegangenen worden ist, sind diese durch die Klarstellung im Termin (Bl. 633 R d. A.) ausgeräumt worden. Danach bezieht sich der Vortrag zu einem minimalinvasiven Vorgehen nicht auf die Wahl des Zugangs, sondern ist im Zusammenhang mit dem Einsatz mikrochirurgischer Technik zu sehen. Dies versteht sich nach der eingehenden Schilderung der Vorgehensweise durch den als Zeuge vernommenen Operateur Z2.

Soweit der Kläger das mikrochirurgische Vorgehen beanstandet oder beanstanden will, ist diese Technik nach der mikrochirurgischen Wirbelsäulenchirurgie regelhaft. Dies hat der Sachverständige SV1 nach eingehender Schilderung der Vorgehensweise durch den Operateur, Z2, nachvollziehbar ausgeführt. Es ist zwischen der orthopädischen und der mikrochirurgischen Wirbelsäulenchirurgie zu unterscheiden. Je nachdem welcher Fachrichtung der Neurochirurg angehört, bevorzugt er die eine oder die andere Vorgehensweise. So hätte sich der Sachverständige an der orthopädischen Seite orientiert und die Operation ohne Mikroskop unter Einsatz eines Meisels vorgenommen. Gleichwohl beanstandete er die Vorgehensweise des Operateurs nicht, da diese nach entsprechender mikrochirurgischer Ausrichtung Standard gewesen sei und auch heute noch sei. So werde die von Z2 beschriebene Vorgehensweise von vielen Neurochirurgen praktiziert und zwar auch heute noch. Der Vorteil des Arbeitens unter dem Mikroskop liege in der genauen Sicht, der Nachteil in dem höheren Zeitbedarf. Der Vorteil des Einsatzes der Hochgeschwindigkeitsfräse gegenüber dem Einsatz eines Meisels liege darin, dass die Fräse keine Instabilität der Wirbelsäule bewirke, der Nachteil, dass das Arbeiten mit der Fräse auch einen höheren Zeitbedarf erfordere, mit dem groben Meisel sei schneller zu arbeiten. Die Bewertung des Sachverständigen SV1, dass der Eingriff unter Einsatz des Mikroskops und der Hochgeschwindigkeitsfräse lege artis erfolgt sei, überzeugt. Zwar sind seine Ausführungen mit schriftlichem Gutachten vom 28.12.2011 missverständlich, wonach die Eingriffstechnik in Kliniken mit einem Schwerpunkt in der neurochirurgischen Wirbelsäulenchirurgie unüblich gewesen sei, gleichwohl in Bezug auf die Technik als lege artis bezeichnet werden müsse, da sie noch in manchen Klinken mit streng mikrochirurgischer Ausrichtung bevorzugt werde bzw. wurde. Mit Gutachtenerläuterung vom 12.07.2012 hat der Sachverständige den vermeintlichen Widerspruch aber dahin aufgelöst, dass zwischen den beiden unterschiedlichen Fachrichtungen zu unterscheiden sei und sich danach die jeweilige Vorgehensweise richte. Damit hat der Sachverständige im Beisein des neurochirurgischen Kollegen seine Bewertung aber nicht relativiert, sondern lediglich eine eingehendere plausible Begründung dieser sich schon im Ansatz aus dem schriftlichen Gutachten ergebenden Bewertung gegeben.

3a)

Zudem ist der Kläger ordnungsgemäß „nach Mason“ gelagert worden. Der Senat ist gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an diese Feststellung des Landgerichts nach dem eindeutigen Ergebnis der Beweisaufnahme gebunden. So stellt auch der Kläger seine ordnungsgemäße Lagerung während der Operation mit der Berufung nicht mehr in Frage.

Schließlich ist auch kein fehlerhaft verzögerter Operationsbeginn festzustellen. Die Beklagte nannte die Maßnahmen, die zwischen der Operationsfreigabe durch den Anästhesisten um 9:20 Uhr und der ersten Schnittführung um 10:07 Uhr durchgeführt worden sind, nämlich die Lagerung des Klägers und weitere vorbereitende Operationsmaßnahmen, wie die Desinfektion. Der Lagerungspfleger, der Zeuge Z4, hat die Vorgehensweise bei der Lagerung in einzelnen Schritten beschrieben. Danach wird der Patient vom Transporttisch, auf dem die Anästhesie eingeleitet wird, auf den eigentlichen Operationstisch umgelagert und vom Rücken auf den Bauch gedreht. Sodann wird der Patient entsprechend positioniert, wie dies aus den Lichtbildern Bl. 124, 125 d. A. zu ersehen ist. Dass allein diese Lagerung des 1,80 m großen und 110 Kg schweren Klägers eine erhebliche Zeit in Anspruch nimmt, erschließt sich ohne weiteres.

b)

Ein Behandlungsfehler ist aber festzustellen, weil die Operation 11 Stunden dauerte. Diese Operationsdauer liegt vorliegend außerhalb des Zulässigen; sie ist durch die Umstände der Operation nicht erklärbar und deshalb zu beanstanden (BGH VersR 2006, 1073, [BGH 13.06.2006 – VI ZR 323/04]OLG Köln, Beschluss v. 20.04.2012, 5 U 139/11; OLG Köln VersR 2013, 62 – 63 [OLG Köln 29.02.2012 – 5 U 139/11]; OLG Hamm, Urteil v. 30.11.2005, 3 U 61/05). Der Sachverständige SV2 hat keine Erklärung dafür, warum die Operation bei mikrochirurgischem Vorgehen und dem Einsatz einer Hochgeschwindigkeitsfräse mit Diamantschleifkörper 11 Stunden dauerte. Der Operateur Z2 gilt als sehr erfahrener Chirurg. Schwierigkeiten können zwar dann auftreten, wenn der Zugang klein ist. Bei der Operationsnarbe des Klägers von 16 cm ist die Narbe/der Zugang jedoch als mittelgroß bis klein zu bezeichnen. Eine Adipositas, wie beim Kläger vorliegend, liegt nach der Erfahrung des Sachverständigen bei fast allen Patienten vor, die sich einer Wirbelsäulenversteifung unterziehen. Es ist zwar so, dass ein sehr kräftiges Muskelkorsett und eine sehr starke Knochenstruktur eine Operation verlängern können, aber nicht auf 11 Stunden. Diese Beurteilung des Sachverständigen deckt sich mit der Angabe der Zeugin Z1, dass abzusehen gewesen sei, dass die Operation deutlich länger als 2 Stunden dauern würde. Es sei mit 6 Stunden zu rechnen gewesen, da eine Versteifung in 2 Segmenten vorgesehen gewesen sei.

Auch unter Hinterfragen seiner Aussage blieb der Sachverständige dabei, dass er keine Erklärung dafür finde, warum die Operation so lange gedauert habe. Aus dem Operationsbericht und der Schilderung des als Zeugen vernommenen Operateurs Z2 habe er keine Gründe dafür entnehmen können.

Es könne schon passieren, dass eine Operation 11 Stunden dauere, dies aber nur unter sehr schwierigen Verhältnissen, z.B., dass doppelt so viele Schrauben eingebracht werden müssten oder dass die Nervenhaut reiße. Es komme auch auf die Narbenverhältnisse an und ob Voroperationen (Vernarbungen) stattgefunden hätten. Der Kläger war bisher ausschließlich konservativ behandelt worden. Da damit keine Vernarbungen vorlagen und der Operationsbericht keine Komplikationen beschrieb, konnte der Sachverständige keine medizinischen Gründe für die Länge der Operation mit 11 Stunden angeben. SV2 beurteilte das Operationsprotokoll in diesem Zusammenhang als „nahezu sinnlos“, da ein solches Protokoll ja zeigen solle, ob es zu Komplikationen gekommen sei und hier auch, weshalb die Operation so lange gedauert habe. Dies ergebe sich aus dem Protokoll aber gerade nicht. In der Operationsdauer über 11 Stunden ohne medizinische Gründe liege ein Behandlungsfehler. Diese Bewertung des Sachverständigen SV2 überzeugt den Senat. Verständlicherweise konnte sich der Sachverständige dabei nicht auf Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen stützen. Dort sind Operationszeiten nicht festgelegt. Dies versteht sich, als insoweit immer der konkrete Einzelfall zu betrachten ist. Die Beschreibung der intraoperativen Vorgehensweise durch den Zeugen Z2 und der Operationsbericht lassen nach den nachvollziehbaren Erklärungen des Sachverständigen SV2 aber nicht erfahren, dass eine Operationsdauer von 11 Stunden erforderlich war. Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass der in erster Instanz beauftragte Sachverständige SV1 nach dem von Z2 als Zeugen geschilderten Einsatz einer Hochgeschwindigkeitsfräse mit Diamantschleifkörper und intraoperativ vorgefundenem sehr kräftigem Muskelkorsett sowie sehr starken Knochen, die „extrem lange Operationsdauer“ schließlich als nachvollziehbar erachtete. Eine nähere Begründung, warum dies so sei, gab der Sachverständige SV1 nicht. Der Sachverständige SV2 blieb hingegen auch unter Vorhalt dieser Einschätzung bei seiner Bewertung. Diese Verhältnisse seien nicht so ungewöhnlich, dass sie die Dauer der Operation auf ungewöhnlich lange 11 Stunden ausdehnen könnten. Erfahrungsgemäß benötige der Durchschnitt der Operateure für eine solche Operation, wie sie in dem Operationsbericht niedergelegt sei, 4 – 6 Stunden. Diesen Erfahrungswert anzuzweifeln, weil der Sachverständige SV2 in der Durchführung solcher Operationen, wie der hier in Frage stehenden, selbst nicht sehr erfahren sei, verfängt nicht. Entscheidend ist nicht die eigene Erfahrung in der Durchführung solcher Operationen, sondern die sachkundig zu beantwortende Frage, welche Dauer der Durchschnitt der Operateure für die ausgeführte Operation benötige. Im Übrigen benötigte der Sachverständige SV2, der sich selbst als nicht sehr erfahren in der Durchführung solcher Operationen bezeichnete, für eine von ihm am 29.02.2016 durchgeführte Operation vergleichbarer Art ebenfalls 6 Stunden, wobei bei dem Patienten allerdings Vernarbungen vorlagen. Weiter deckt sich der ermittelte Erfahrungswert von bis zu 6 Stunden Operationsdauer mit der Erklärung der Zeugin Z1, dass bei der streitgegenständlichen Operation mit 6 Stunden zu rechnen gewesen sei. All das überzeugt den Senat. Das von der Beklagten beantragte Obergutachten war damit nicht einzuholen.

4.

Ein weiterer Behandlungsfehler ist nicht festzustellen. Dass die Wirbelsäulenversteifung nicht ordnungsgemäß und dem medizinischen Standard gemäß erfolgt sei, da sich erstmals postoperativ auf den Röntgenbildern vom 30.11.2005 eine Torsionsskoliose der LWS nach links zeigte, erschließt sich nicht. Die Röntgenaufnahme wurde nach einem Sturz des Klägers gefertigt. So heißt es: „Klinische Angaben: Z. n. Sturz. Verlauf n. Spondylodese L4/5 und L5/S1“ (Befund vom 01.12.2005, Krankenunterlagen, Bl. 195 d. A.). Zeigte sich die Drehverkrümmung aber erstmals nach dem Sturz, so ist sie unschwer auf denselben zurückzuführen.

Der Primärschaden, die beidseitige Läsion des Nervus femoralis ist, auf die fehlerhafte überlange Operationsdauer in Bauchlage zurückzuführen. Die Kausalität zwischen Eingriff und Schaden hat der Sachverständige SV1 sicher bejaht. Sie wird von der Beklagten nicht angezweifelt. Die Folgen der Nervschädigung, eine Quadrizepsparese und eine Hüftbeugerparese beidseits, zeigten sich erstmals postoperativ am 24.11.2005.

5.

Neben dem zu Ziffer 3b) festgestellten Behandlungsfehler ist kein Aufklärungsfehler festzustellen.

a)

Über vermeintliche Behandlungsfehler (OP-Indikation und -Vorgehensweise) ist nicht aufzuklären.

b)

Soweit der Kläger beanstandet, nicht über Behandlungsalternativen aufgeklärt worden zu sein, vermisst er nicht die Aufklärung über eine weitere konservative Behandlung. Denn diese lehnte er nach der vorangegangenen erfolglosen stationären konservativen Rehabilitationsbehandlung in der A-klinik Stadt1 ab.

Soweit der Kläger die Aufklärung über die Möglichkeit der Implantation einer Bandscheibenprothese anstatt der vorgenommenen Versteifung vermisst, hat der Senat nach der nachvollziehbaren Bewertung des Sachverständigen SV2 die Überzeugung gewonnen, dass es sich bei der Implantation von Bandscheibenprothesen vorliegend nicht um eine Behandlungsalternative handelte.

Zwar habe bei dem Kläger keine operationspflichtige Instabilität der Wirbelsäule vorgelegen, so dass die Behauptung, allein mit der Versteifung sei die Stabilität der Wirbelkörper wieder herzustellen gewesen, verwirrend sei. Jedoch indizierten die therapieresistenten Schmerzen eine Versteifung zur Ruhigstellung und hiermit zur Besserung der Schmerzsymptomatik. Hingegen sei die Bandscheibenprothese kontraindiziert gewesen und zwar aufgrund

– der Spinalkanal-Stenose mit radikulären Beschwerden und Claudicatiospinalis

– der degenerativen Veränderungen der Facettengelenke und

– der zwar geringen, aber bestehenden Spondylolisthese.

Zudem handelt es sich bei dem Einsatz von lumbalen Bandscheibenprothesen um ein relativ neues Verfahren. Nach den nationalen Leitlinien der AWMF Stand 2012 gilt: „Die Implantation künstlicher Bandscheiben zur Schmerztherapie wird bei unklaren Langzeitprognosen derzeit kritisch bewertet. Studien, die ein Benefit eines derartigen Eingriffs belegen, liegen nicht vor. Gilt dies 2012, so galt dies auch für den zurückliegenden Operationszeitpunkt in 2005.

Der Sachverständige erörterte das Für und Wider einer bewegungserhaltenden Operation und kam zu dem gut begründeten Ergebnis, dass im Gesamtbild der Beschwerdesymptomatik des Klägers diese nicht indiziert gewesen sei.

Die langbestehende Lumbago-Symptomatik wäre nämlich durch eine bewegungserhaltende Operation aggraviert worden.

c)

Schließlich war über eine Nervenläsion infolge überlanger Lagerung bei dorsalem Zugang nicht aufzuklären.

Bei der Schädigung des Femoralis-Nervs bei dorsalem Zugang handelt es sich nicht um ein lagerungstypisches Risiko. Dies hat der Sachverständige SV2 unter Bestätigung der Beurteilung des Sachverständigen SV1 zur Überzeugung des Senates am 07.07.2015 erläutert. Danach wird eine solche Läsion in der Literatur nicht beschrieben. Dem Sachverständigen ist bis auf eine Ausnahme aus dem Bericht eines Kollegen in einem ähnlich gelagerten Fall bei nicht so schwerer Schädigung in der Praxis keine solche Schädigung bekannt geworden. Da es sich damit um ein Risiko handelt, welches praktisch nicht bekannt ist, ist es nicht aufklärungspflichtig.

6.

Für die Beeinträchtigungen, die auf die Nervenschädigung zurückzuführen sind, erachtet der Senat ein Schmerzensgeldkapital in Höhe von 50.000,00 € für angemessen, aber auch ausreichend (§ 253 Abs. 2 BGB).

Dabei berücksichtigte der Senat insbesondere, dass sich am 24.11.2005 eine Quadrizepsparese und eine Hüftbeugerparese beidseits zeigte, so dass der Kläger bei seiner Entlassung am 19.12.2005 zur Rehabilitation weitgehend steh- und gehunfähig war und erst nach Abschluss der Rehabilitation am 25.01.2006 in der Lage war, mit zwei Unterarmgehstützen bis zu 600 m zu gehen. Der Kläger war über einen Zeitraum von fast 2 Jahren in seiner Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt; erst im Sommer 2007 zeigte sich eine deutliche Besserung. Es bestand aber weiterhin eine Iliopsoasparese beidseits Kraftgrad 4/5 sowie eine diskrete Quadrizepsparese. Der Zustand verschlechterte sich wieder. Es kam zur neuerlichen Progredienz der Rückenschmerzen und zum Wiederauftreten von Kribbelparästhesien im L5/Dermatom. Im November 2009 musste sich der Kläger einer stationären Schmerztherapie unterziehen. Wesentliche Paresen bestanden zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Während sich die Paresen nunmehr nahezu vollständig zurückgebildet haben, persistieren die Kausalgien im Ausbreitungsgebiet des Nervus femoralis beidseits. Der 196x geborene Kläger muss dauerhaft mit diesen Schmerzzuständen leben. Eine Besserung ist nicht mehr zu erwarten. Es handelt sich um einen chronischneuropathischen Schmerz. Die verbliebene Kausalgie lässt nach plausibler Bewertung des Sachverständigen SV2 dauerhaft eine Opioideinnahme mit erforderlich werden. Auch nach deutlicher Therapieoptimierung in der Schmerzklinik Ende 2009 musste der Kläger, wie dem Medikationsplan zur Entlassung zu entnehmen ist, Opioide einnehmen. Es versteht sich, dass der Kläger aufgrund der dauerhaften Schmerzzustände psychisch angegriffen ist. Das Schmerzensgeldkapital von 50.000,- € ist ausreichend; daneben war keine Schmerzensgeldrente zuzuerkennen

7.

Der Feststellungsantrag bezüglich der materiellen Schäden ist begründet. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund der Folgen der Nervenschädigung in der Vergangenheit materielle Schäden erlitten hat, sei es im Bereich der Haushaltsführung oder im Rahmen des Verdienstes. Er war mehrere Wochen in stationärer Behandlung und sodann im beschriebenen Umfang eingeschränkt. Es liegt auf der Hand, dass der Kläger aufgrund der Manifestation der Kausalgien auch künftig materielle Schäden erleiden kann.

8.

Der Zinsanspruch beruht auf §§ 288 Abs. 1 S. 2, 291 Abs. 1 BGB.

Der Anspruch auf Ersatz außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten aus einem Streitwert von 122.121.45 € (50.000,-€ zzgl. 72.121.45 €) bei einer 2,0 Geschäftsgebühr in Höhe von 3600,94 € beruht auf § 286 BGB.

9.

Die Kostenentscheidung hat ihre Grundlage in §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO; sie entspricht dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 543 Abs. 2 ZPO), liegen nicht vor.

Der Streitwert beider Instanzen war auf bis zu 165.000,- € festzusetzen. Dabei war der Zahlungsantrag (Klageantrag zu 1.) nach der Mindestschmerzensgeldvorstellung des Klägers mit 85.000,- € zu bemessen, während der Feststellungsantrag (Klageantrag zu 2.) mit insgesamt 75.121, 45 € zu bemessen war. Von den errechneten materiellen Ansprüchen für die Vergangenheit war ein Abschlag von 20 % vorzunehmen und von den errechneten materiellen Ansprüchen für die Zukunft ein solcher von 50 %; wobei der Senat der Position „materieller Vorbehalt“ ohne Abschlag einen geschätzten Wert von 5000,- € unterlegte. Den immateriellen Vorbehalt schätzte der Senat (ohne Abschlag) auf 3000,-€.

Da der Kläger keinen Antrag auf Schmerzensgeldrente gestellt hat, blieb diese als Zahlbetrag außer Ansatz. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten blieben als Nebenforderung unberücksichtigt.

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